Prypjat

Chernobyl, Harrisburg, Sellafield, Hiroshima

Stoppt Radioaktivität

Weil `s um unsere Zukunft geht

Strahlentod und Mutation
durch die Schnelle Kernfusion

Wer kennt sie nicht, die markante erste Strophe von Kraftwerks „Radioaktivität“? Bereits 1975 veröffentlichte die Gruppe das Album Radioaktivität, elf Jahre vor dem Reaktorunglück von Tschernobyl. In der Urfassung des Liedes fehlte die Textzeile Tschernobyl – sie wurde erst später eingebunden. 1986 kam es dann zum Reaktorunglück im Reaktor 4 in Tschernobyl. Eine Katastrophe, wie auch Kraftwerk es nicht hätte vorhersehen können. Am 26.04.1986 kam es aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften zu einer Explosion im Reaktor 4. Durch schwere Fehleinschätzungen der gesamten Situation wurde die in der Nähe liegende Stadt Prypjat zu spät evakuiert. Zum Zeitpunkt der Katastrophe wohnten hier ca. 50.000 Menschen (darunter 15.000 Kinder), die meisten von ihnen Arbeiter im Kernkraftwerk. Diese wurden erst 36 Stunden nach dem Unglück in einem Zeitfenster von ca. 2 1⁄2 Std. mit 1.200 Bussen evakuiert. Den Bewohnern wurde versichert, dass sie drei Tage später zurückkehren könnten – was natürlich nicht der Wahrheit entsprach. Seitdem ist Prypjat eine Geisterstadt. Warum schreibe ich diese Zeilen? Als die Katastrophe geschah, war ich 15 Jahre alt und ich kann mich kaum dran erinnern, was ich damals gedacht habe. In den letzten Jahren habe ich mich intensiver damit auseinandergesetzt, verlassene Gebäude zu fotografieren und damit beschäftigt, was passiert, wenn die Natur sich unseren urbanen Lebensraum zurückerobert. In diesem Umfeld stieß ich immer wieder auf Prypjat. Letztes Jahr traf ich dann einen Fotografen, der schon dort war und mir begeistert davon berichtete. Von da an ließ mich der Gedanke nicht mehr los und ich beschäftigte mich mit den Möglichkeiten, den Risiken und den Kosten einer solchen Reise. Im August bot sich spontan die Chance, zusammen mit einem Freund in die Ukraine zu reisen und auch Prypjat zu besuchen.
Prypjat ist immer noch eine Sperrzone. Um durch die drei das Areal umgebende Checkpoints zu gelangen, ist eine Voranmeldung von mindestens elf Tagen erforderlich. Wir buchten eine geführte Tour, welche auch die administrative Abwicklung umfasste.

Dann war es soweit. Gut vorbereitet (mindestens lange Hose und Jacke, alte Schuhe – die danach entsorgt wurden-, mit Plastikfolie umwickeltes Stativ) wurden wir morgens am Hotel abgeholt und zum Treffpunkt gefahren. Dort wurden unsere Daten kontrolliert, anschließend fuhren wir mit weiteren zehn Teilnehmern aus sechs Nationen in einem Bus in die knapp zwei Stunden entfernte Stadt nach Prypjat. Am ersten Checkpoint angekommen, wurden wir von unserem Tourguide Maxim begrüßt und belehrt, was erlaubt, vor allem aber was nicht erlaubt sei. Dort bekamen wir dann auch die Mühlen der ukrainischen Behördenmentalität zu spüren. Die Kontrollen waren vermeintlich sehr gründlich und wohl auch länger als gewöhnlich.

Auf dem weiteren Weg passierten wir die zwei anderen Checkpoints mit nur kurzen Kontrollen und machten noch Halt am Denkmal für die Feuerwehrleute, die damals als erstes am Reaktor eintrafen und dann qualvoll an der Strahlenkrankheit starben. Das Denkmal wurde komplett von Freunden und Verwandten ohne Beteiligung des Staates gestiftet. Anschließend zeigte uns Maxim eine Übersichtskarte mit den Zonen um Prypjat und einen Weg mit 97 Ortsschildern. Dort wurden alle Orte aufgeführt, die von den Liquidatoren (Soldaten, die die Dekontamination durchführten) dem Erdboden gleichgemacht wurden, um die Strahlung einzudämmen. Als nächstes besuchten wir eine verlassene Kindertagesstätte, die das eh schon unterschwellige Unwohlsein nochmals verstärkte und einem die Katastrophe deutlich vor Augen führte. Dieses Gefühl ließ uns dann auch die ganze Tour nicht mehr los. Wir besuchten
noch eine Schule, ein Schwimmbad und den ehemaligen Supermarkt. Dann ging es zu dem berühmten Jahrmarkt, der nie eröffnet wurde. Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, an so einem
Platz zu stehen, der Freude bereiten sollte, aber jetzt nur noch als Mahnmal für einen verantwortungsvollen Umgang mit Atomkraft gesehen werden kann. Bevor wir dann den Reaktor Nummer 4, der mit einem Betonsarkophag versiegelt wurde, einen Besuch abstatteten, gab es ein Essen in der Kraftwerkskantine. Derzeit sind bis zu 4000 Arbeiter in zwei Wochen Schichten im Kraftwerksbereich beschäftigt. Das Essen wird von außerhalb in die Kantine gebracht und dort ausgegeben.
Dem Reaktor, der letzten Station, näherten wir uns nur auf ca. 400 Meter. Dort durften wir auch nur den alten Sarkophag fotografieren, der neue, der in ca. 500 Metern errichtet wird, durfte nicht abgelichtet werden.
Die Strahlung entspricht in etwa der, die man bei einem Flug in einer Höhe von 10.000 Fuß ausgesetzt wäre. Teilweise zeigten unsere Geigerzähler eine Strahlung an, die auf dem Niveau einer normalen Großstadt liegt.
Für mich war es ein interessanter Trip, der mich sehr zum Nachdenken angeregt hat. Intensiver als durch einen Besuch kann man die Geschichte eines Ortes nicht vermitteln.
Viele Menschen sind der Auffassung, diese Orte gehören verschlossen und totgeschwiegen. Dies würde dann jedoch nur Schrottdieben und Vandalen den Weg freimachen. Ich favorisiere die Möglichkeit, dieses einzigartige Mahnmal der Zerstörungskraft von Atomenergie, besuchen zu können.